Armenien – … und innen ist die Traurigkeit

29.09.2021

Heute ist mein letzter Tag in Armenien. Da gehen die Gedanken rund um das Erlebte und es drängt mich, diese aufzuschreiben und auch jetzt schon zu veröffentlichen statt es chronologisch für später aufzubewahren. Was zwischen der Taxifahrt und heute liegt, davon wird aber auch noch berichtet.

 

Gestern fuhr ich mit einem Taxi nach Gyumri. Gyumri ist die zweitgrößte Stadt Armeniens und hat mächtig bei einem Erdbeben 1988 gelitten. 25.000 Tote. Als ich dem älteren Taxifahrer erzählte, dass ich aus Deutschland bin, wurde er ganz aufgeregt und versuchte mir mit Gestik, paar englischen Worten und armenisch etwas zu erzählen. Sein Boy, der sei – er deutete auf seinen Rücken mit bisschen wie Schießen – Karabach. Und dann wuselte er an seinem Handy rum bis er fand was er suchte: ein Video eines jungen Mannes, der gymnastische Übungen im Krankenbett machte. Sein Boy. Es wühlte ihn auf und er wollte sich sicher sein, dass ich es verstand. Germania Doktor. Ich folgerte, dass er einen deutschen Arzt habe, aber das war eigentlich nur Nebensache, das wichtigste war, dass sein Sohn im Krieg verletzt wurde und sich jetzt abmühte, wieder fit zum weiterleben zu werden.

 

Wir kamen an einem großen wohl Militärfriedhof direkt an der Straße vorbei. Ich solle nicht aussteigen, aber gucken und Bilder machen. In der Kürze sah ich nur, dass zumindest die vorderen Grabsteine alle das Todesdatum 2020 trugen. Manche Geburtsjahre hatten eine 2 vorne – sie sind also höchstens 20 Jahre alt geworden.

 

Gedenken an 2020
mindestens die vorderen Grabsteine sind aus 2020

 

Radio Armenien hat auch eine englischsprachige Webseite (hierhier) – da stand gestern, dass von Aserbaidschan gefordert wird, die Kriegsgefangenen wieder frei zu lassen.

 

Der Genozid, die Okkupierung der Sowjetunion (wobei manche dem auch Positives abgewinnen, es gab eine Wirtschaft und die Obersten waren nicht nur auf eigene Bereicherung aus), Berg Karabach (seit 2017 nennen sie sich selber Republik Arzach) mit dem neusten Krieg 2020, das Erdbeben 1988, nicht so unterstützt von der internat. Gemeinschaft wie sie es sich wünschen – Armenien ist arg gebeutelt und diese Traurigkeit darüber scheint mir wie eine dunkle Wolke im Land, den Menschen innewohnend zu sein.

 

Das macht auch mich eher traurig. Ich habe selten auf einer Reise so wenig gelacht wie hier. Jedenfalls in meiner Erinnerung. Und mich schockieren auch immer wieder die Tatsachen. Vieles habe ich nicht gewusst, manches im Hinterstübchen meiner Gehirnwindungen halbgar wegsortiert – ich muss vor Ort sein, um empfänglicher und interessierter zu werden.

 

In meiner Vergangenheit habe ich mich extrem wenig mit dem Ostblock befasst. Ich wuchs mit der Mauer auf und was östlich davon war, das hat mich nicht interessiert. Vielleicht ein bisschen peinlich, aber so war es. Und jetzt lasse ich es gemächlich in langsamen Dosen an mich heran – 1992 Radtour durch Mecklenburg-Vorpommern, 1998 Autoreise nach Tschechien/Slowakei, 2005 Estland, 2008 Georgien – 2021 Armenien.

 

Dass ich nach Armenien wollte, das hat sich vor vielen vielen Jahren bei mir festgesetzt. Ich habe nichts gewusst, mich nicht informiert, aber es ist bei mir geblieben (wobei es noch andere Gegenden gibt, die da festsitzen). Ich frage mich heute, was es eigentlich war, was sich da festsetzte. Die Realität sicherlich nicht. Im Kontakt mit der Realität merke ich, dass meine Erwartungen anders gewesen sein müssten, ich wäre sonst nicht so überrascht gewesen. Aber das ist auch etwas, was ich prinzipiell mag: nicht viel wissen, wohin fahren, gucken – und dann mich wirklich interessieren.

 

Aber auch wenn ich traurig bin – es drängt mich, die Realitäten woanders während meines Daseins zu erleben.  Wie anders sich das Leben und die Welt aus anderen Blickwinkeln und Standpunkten betrachten und erleben lässt. Und auch ich kann meinen Standpunkt verändern und meinen Blick hierhin und dorthin schweifen lassen.

 

Ich denke beim Reisen und Fotografieren darüber nach, wie ich das subjektiv Erlebte zusammenfassen kann. Ein bisschen mit Worten, viel mit Bildern. Hier hatte ich relativ schnell eine Fotoserienidee: Fensterblicke wie dieser:

 

Fensterblick

 

Ich habe das Gefühl, Armenien nicht wirklich nah zu kommen – sondern durch eine Barriere zu erleben. Die überwiegend fehlende Sprache hat dabei einen großen Anteil (und nicht nur die Sprache an sich, auch die Inhalte dessen worüber man sprechen könnte). Die unterschiedlichen Lebensrealitäten einen weiteren. Das trifft zwar eigentlich auf die meisten meiner Reiseziele außer Mitteleuropa zu – aber hier erlebe ich es deutlicher.

 

Aber ich kann auch meinen Standpunkt und Blickwinkel verschieben – und es käme eine andere Essenz raus. Z.B. dass vieles (Gegensätzliches) gleichzeitig da sein kann. Ich habe hier viel Schönes gesehen. Mir fällt gerade ein lustiger Gesprächsfetzen ein, wie ich Gemeinsamkeit schaffen wollte. Armine beklagte sich über die vormaligen Olligarchen hier, die das Geld einsackten und sich edle Villen mit goldenen Aufzügen bauten. Ich sagte, in Deutschland hätten wir einen Kardinal gehabt, der hat sich eine goldene Badewanne angeschafft. So konnten wir gemensam den Kopf schütteln.

 

Ich bin innerlich zufrieden, wenn ich mich ausdrücken kann und wenn ich Sachen verstehe. Heute Nacht hat mich schlaflos gemacht, dass ich das mit Berg Karabach/Arzach nicht wirklich verstehe. Ich muss so viel nachgucken und mir dann verständlich machen. Momentan versuche ich z.B. das mit dem Völkerrecht zu kapieren. Und diese ganzen Interessen von Deutschland, Türkei, Aserbaidschan, EU, USA usw. usf. im Bezug auf Arzach zu verstehen. Einen Teil davon scheint mir Martin Sonneborn in diesem linklink ganz gut erläutert zu haben.

 

In einem Podcast erzählte eine Frau, dass jemand aus Armenien zu ihr gesagt habe „Wir lieben es, zu weinen“. Mit der Musik während der Taxifahrt mit Garik kam es mir zutreffend vor. Mit der Geschichte und der Gegenwart logisch. Und trotzdem möchte ich auch hier betonen: es ist EIN Blickwinkel.

Wie gesagt macht es mich zufrieden, wenn ich einen Ausdruck gefunden habe. Und es macht mich auch sehr zufrieden, ein Einzelbild gemacht zu haben, welches Armenien, so wie ICH es momentan sehe, ausmacht:

 

Mein Symbolbild

 

Ich hatte auf der Reise alle Freiheiten, früher nach Georgien zurück zu reisen. Ich habe es nicht gewollt und bin sehr froh über meine Entscheidung. Inkl. der Traurigkeit.

 

(Ich denke gerade: es wird noch einen Extra-Post zum Reisen und Allgemein geben – hier war mir dieser Blickwinkel wichtig)